Leica M Thambar 90mm 2.2
Erfahrungsbericht – Test- Review
von Wonzo
Leica M Thambar 90mm 2.2: Das nach mehr als 80 Jahren (1935) von Leica neu aufgelegte Thambar ist in der heutigen Zeit eine Rarität, völlig jenseits des herrschenden Zeitgeistes. Heute geht es weitgehend darum, Objektive herzustellen, die klinisch scharf zeichnen und möglichst frei von jeglichen Abbildungsfehlern sind. Leica sei Dank, daß es dennoch diesen Weg geht und damit einen kleinen Kreis von Interessierten anspricht, die ein solches Objektiv zu schätzen wissen.
Beim Thambar wurde durch eine Unterkorrektur der sphärischen Abberation ein Weichzeichnereffekt erzielt. Je nach Blendenöffnung führt dies zu sehr speziellen Ergebnissen. Das Thambar M ist baugleich mit dessen Vorgänger, nur mit dem Unterschied, daß leichte optische Korrekturen vorgenommen wurden und daß die Linsenelemente nicht mehr unvergütet, sondern einfach vergütet sind.
Die Blende
Der stufenlos einstellbare Blendenbereich des 90mm Thambar reicht von 1:2,2 bis 1:25. Die Weichzeichnung ist bei größter Blendenöffnung am intensivsten und läßt kontinuierlich nach, bis das Objektiv ca. bei Blendenstufe 1:9 beginnt, knackscharf abzubilden. Der serienmäßig mitgelieferte Zentralfilter soll einen nochmals minimal weicheren Effekt erzielen und ist im Blendenbereich von 1:2,3 bis ca. 1:7,5 verwendbar.
Der Weichzeichnereffekt nimmt zum Bildrand hin zu. Die einzigartige Bildwirkung des Thambar wird zusätzlich durch dessen 20 Blendenlamellen erzielt, die ein besonderes Bokeh mit teilweise kreisrunden Abbildungen liefern.
Das Thambar an der Leica M10
Das Thambar habe ich hauptsächlich an der Leica M10 verwendet. Entsprechend sind alle in diesem Erfahrungsbericht gezeigten Bilder mit der M10 fotografiert. Ein Bild stammt aus der analogen M6.
Während der ersten Testaufnahmen stellte ich sehr schnell fest, daß es sehr hilfreich ist, den elektronischen Aufstecksucher „Visoflex“ an der M10 zu verwenden, um die Besonderheiten des Objektivs über den elektronischen Sucher unmittelbar wahrnehmen zu können. Es ist sehr schön zu erkennen, wie die Farben verschwimmen, wie sich ein Lichtkranz um die Motive bildet, je mehr die Blende geöffnet wird. Mit Hilfe des Visoflex und der stufenlosen Blendeneinstellung lassen sich die Weichheitsnuancen und das Bokeh sehr schön steuern und auch besondere Effekte unmittelbar erkennen, wenn zusätzlich bewußt mit einer gewissen Unschärfe gespielt wird. Somit können Bilder entstehen, die das Thambar in den Bereich der „Art Lenses“ einordnen lassen.
Obige zwei Bilder entstanden beispielsweise bei Offenblende und einer gezielten Unschärfe.
Einfluss der Lichtmenge
Je mehr Licht zur Verfügung steht, desto mehr entfaltet das Thambar seinen vollen Charakter. Insbesondere das Bokeh führt dann zu unzähligen kreisrunden und vielfarbigen Abbildungen, unabhängig davon, ob es sich um Lichtreflexe bei Tageslicht oder um künstliche Lichtquellen handelt. Dies kann je nach Motiv zu sehr schönen Bildwirkungen beitragen. Andererseits können die kreisrunden Reflexe je nach Motiv aber auch ungemein störend sein und ein Bild zu unruhig erscheinen lassen.
Die obige Portraitaufnahme zeigt beispielsweise die kreisrunden Lichtreflexe, die an einem sehr sonnigen Tag auftreten können. Diese können ggf. noch intensiver ausfallen und damit ein Bild sehr unruhig erscheinen lassen. Andererseits kann es auch zu faszinierenden Bildwirkungen kommen, je nachdem, wie man die Effekte als Stilmittel einsetzt.
Ist es ein reines Portraitobjektiv ?
Sehr häufig lese ich, daß das Thambar ein Portraitobjektiv sei. Mit dieser Aussage reduziert man die Möglichkeiten dieses Objektivs unnötig. Zwar gibt es aus der Vergangenheit einige Beispiele für sehr gelungene Portraitaufnahmen. In Landschaften und Natur lassen sich die träumerischen Effekte des Thambar ebenso schön und gezielt einsetzen.
Bei der Reduzierung der Blendenöffnung werden die Bilder auch absolut scharf und kontrastreich. Dies geht aber zulasten der Bildwirkung und der Effekte, für die das Thambar geschaffen wurde. Ich möchte mit dieser Aussage lediglich die Vielseitigkeit des Objektivs verdeutlichen.
Die Möglichkeiten der digitalen Fotografie erleichtern es erheblich, mit einem so speziellen Objektiv wie dem Thambar schneller zurecht zu kommen. In der Zeit der analogen Fotografie, als das Thambar erstmals auf den Markt kam, benötigte der Fotograf vermutlich zahlreiche Filmrollen und viel Geduld, um die Bildwirkungen des Thambar zu begreifen und Bildergebnisse nach seinen Vorstellungen zu erzielen.
Sinn des Zentralfilters?
Eine Frage, die sich auch heute noch aufwirft, zumindest für mich, ist der Sinn des Zentralfilters. Dieser weist in der Mitte einen kreisrunden, silbernen und lichtundurchlässigen Punkt auf, damit das Licht nur von den Randbereichen des Objektivs eindringt. Damit soll der Weichzeichnereffekt noch deutlicher werden. In der Praxis habe ich nur einen sehr geringen Effekt durch den Filter erkennen können. Zusätzlicher Nachteil: eine Abblendung über ca. 1:7 hinaus bringt keine brauchbaren Bildergebnisse mehr bringt, da durch den Filterpunkt entsprechend ein dunkler Punkt im Bild sichtbar wird, der letztlich kein Licht mehr eindringen läßt. Folglich habe ich den Filter nur anfänglich genutzt und verwende diesen inzwischen nicht mehr. Ohne Filter habe ich zusätzlich den Vorteil, schnell vom Bereich der Weichzeichnung zum Schärfebereich wechseln zu können.
Nachdem ich das Thambar einige Zeit an der M10 verwendet hatte, fiel es mir nicht schwer, zu erahnen, wie ich das Objektiv mit einer analogen Kamera einsetzen kann bzw. welche Bildwirkung ich bei welcher Blendeneinstellung erzielen würde.
Nachfolgend ein Beispiel mit meiner analogen Leica M6:
Fazit
Mein Resumé nach ca. 9 Monaten, in denen ich das Thambar gelegentlich eingesetzt habe. Es ist ein bildschönes, hervorragend verarbeitetes und außergewöhnliches Objektiv mit einer bemerkenswerten Vielseitigkeit. Es erschließt sich nicht unmittelbar in allen seinen Möglichkeiten, sondern es verlangt Auseinandersetzung. Nehmen Sie sich die Zeit für die einzigartige Bildwirkung. Die weder mit einem anderen Objektiv noch in der Nachbearbeitung am Computer erzielen lassen. Ich bin mir bewußt, daß ich die kreativen Möglichkeiten, die mir das Thambar bietet, noch längst nicht ausgeschöpft habe und freue mich auf das, was noch kommt !
Hier gibt es noch einen Erfahrungsbericht von Andreas Jorns